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Albert Schulz

Ein Leben gegen den Sturm

Bei der Verabschiedung des Schweriner Landgerichtspräsidenten Dähnhardt im Großen Saal am Demmlerplatz im Mai 2000 bemerkte der frühere Hamburger Bürgermeister Peter Schulz fast beiläufig zu mir, hier an diesem Ort (an dem nach der Wende auch zahlreiche Hamburger Kollegen gearbeitet hatten, einzelne noch tätig sind), in diesem Kellergewölbe habe sein Vater als Häftling der Bolschewisten schlimme Tage und Nächte verbracht. Die gemeinsame Rückfahrt nach Hamburg war dann lang genug für etwas mehr als diese Andeutung, aber doch zu kurz, das Schicksal eines tapferen, überzeugungstreuen und eben deshalb verfehmten und geschundenen Sozialdemokraten hinlänglich zu Sprache zu bringen.

Albert Schulz hatte – auf Drängen seiner Familie – Jahrzehnte nach der Flucht im hohen Alter von 77 Jahren seine Lebenserinnerungen aufgeschrieben. Kürzlich erst wurde das Manuskript des Vaters von seinen Kindern zur Veröffentlichung freigegeben und liegt jetzt – mit einem Vorwort seines alten Freundes Helmut Schmidt – als Buch vor (Albert Schulz – Erinnerungen eines Sozialdemokraten, Universität Oldenburg 2000).

Albert Schulz: Geboren 1895 in Rostock, dort zunächst Werftarbeiter (Neptunwerft) wie sein Vater; Sozialdemokrat von Jugend an, Wanderschaft, Weltkriegssoldat, mit 25 Jahren sozialdemokratischer Abgeordneter im Mecklenburger Landtag, Redakteur, Gauvorsitzender des Reichsbanners, dem es in Rostock immerhin gelingt, die sozialdemokratischen Versammlungen vor nazistischen und kommunistischen Rabauken, Agitatoren und Kampftrupps zu schützen. Im Juli 1932 noch wird Schulz für Mecklenburg-Schwerin in den Reichstag gewählt. Aber das letzte Kapitel der Weimarer Republik ist schon eingeläutet. Ende Januar 1933 gelangt Hitler zur Macht, die Parteien werden verboten, ihre Funktionäre verfolgt, Schulz wird arbeitslos, von den Nazis verhaftet, schlägt sich dann mit seiner vierköpfigen Familie kümmerlich, aber unverdrossen durch. ... Nach dem 20. Juli 1944 wird es für ihn lebensgefährlich: Er wird als Mitwisser der Aktion gegen Hitler von der Gestapo verhaftet, in das "Hilfs-KZ" Güstrow eingewiesen, kahlgeschoren und eingehend verhört - wobei es der Gestapo indessen nicht gelingt, die enge Beziehung aufzudecken und zu durchschauen, die Schulz zu dem (später von den Nazis ermordeten) Julius Leber unterhalten hatte. Dem Zugriff der Nazis glücklich entronnen, kann Schulz die Monate bis Kriegsende dank einer Intervention der Luftwaffe als Angestellter ihrer Gebührenstelle in Boltenhagen überstehen. ...

Dann eine tiefe Zäsur: die Nazis sind geschlagen, die Engländer, die zunächst über Boltenhagen bis Schwerin das Land besetzt hatten, ziehen im Juli 1945 ab; zum Entsetzen der Bevölkerung kommen dafür die Russen. Albert Schulz, obwohl wegen seines Widerstands gegen die sich anbahnende Zwangsvereinigung der SPD mit der KPD verdächtigt und beargwöhnt, gilt den Russen trotzdem zunächst noch als "guter Mann". Er wird zum Oberbürgermeister von Rostock bestimmt – und gewählt. Dennoch (oder gerade deshalb) nimmt das Verhängnis seinen Lauf; zitieren wir ein paar Zeilen aus den Erinnerungen:

"Zu 10 Jahren Zwangsarbeit verurteilt:

Eines Abends im Februar 1947 erschienen in später Stunde ein Offizier des NKWD mit zwei Gehilfen, um bei mir Haussuchung zu machen und mich zu verhaften. Dabei packten die Russen zwei Koffer mit Akten und Unterlagen voll, die ich nie wieder zu sehen bekommen habe. Darunter waren manche Sachen, die ich durch die Nazizeit gerettet hatte. Ich wurde im Keller ihres Hauses eingesperrt. Am Montagabend wurde ich nach Schwerin überführt und in die Kellerräume des Justizpalasts (Anm.: Demmlerplatz!) gebracht, nachdem mir wie üblich alle Sachen abgenommen wurden, einschließlich Schlips und Hosenträger. In der Ein-Mann-Zelle befanden sich schon fünf Gefangene, ich war der sechste. ... Am nächsten Morgen wurde mir der Kopf kahl geschoren. Zur nächtlichen Stunde begannen die Vernehmungen. ..."

Es folgt die Schilderung grauenvoller Haftzustände ... eines Scheinprozesses ... die Russen versuchen, aus dem geschworenen Feind der Nazis einen heimlichen "Faschisten" zu machen ... ; dann das Urteil: zehn Jahre Arbeitslager wegen Sabotage ... Kerkerhaft ... schließlich abgeführt in die berüchtigte "Todeszelle", Panik. ... Dann aber wird Albert Schulz nach vier elenden Zellenmonaten plötzlich ohne nähere Begründung (oder gar förmliche Begnadigung) entlassen: mit der strengen Auflage, kein Sterbenswort über dieses furchtbare Zwischenspiel seines Lebens zu verlieren. Der russische Oberst Serebinski zu ihm, kaum dass der Barbier das Wrack wieder zum Menschen Schulz hergerichtet hatte: "Herr Oberbürgermeister, ich freue mich, Sie zu sehen. ... Morgen nehmen Sie ihre Dienstgeschäfte als OB wieder auf!" (erst etwa 50 Jahre später findet der Sohn Peter den Grund dieses abrupten Kurswechsels: in den einschlägigen Akten der Gauck-Behörde! Dem damaligen SED-Vorsitzenden Wilhelm Pieck war aus Rostock zugetragen worden, das plötzliche, jeglicher Erklärung bare Verschwinden des populären OB: dessen offensichtliche Verhaftung also, drohe örtliche Arbeiterunruhen auszulösen. Pieck hatte diese Sorgen den Russen dringlich anvertraut, die dann, wie ersichtlich, prompt reagierten). So sitzt Albert Schulz ebenso unvermittelt, wie er von der Bildfläche verschluckt worden war, wieder im Rate: kahlen Hauptes, ohne jegliche Erklärung. So geht er auch mit dem Sohne durch die Straßen: willentlich ohne Hut; auch das eine – wortlose – Demonstration. ...

Er setzt also einen verzweifelten Kampf zur Rettung einer guten Sache – des sozialdemokratischen Erbes in einer sich dramatisch bolschewisierenden Partei - noch eine Weile fort und versucht (mit lebhaftem Rückhalt der Bevölkerung) sein Amt als Bürgermeister der Rostocker - und nicht als Statthalter der Russen oder Funktionär der SED – zu versehen. Das konnte, wie die Dinge inzwischen lagen, und überdies angesichts alter Rechnungen, welche die Kommunisten mit ihrem hartnäckigen Widersacher begleichen wollten, nicht gutgehen. Dazu lässt Schulz eine Randbemerkung einfließen, die für unser Hamburger Blatt trotz ihrer Beiläufigkeit zitabel sein mag:

"Wie sehr meine Stellung schon untergraben war, dafür ein kleines Beispiel. Mein Sohn Peter hatte 1949 sein Abitur gemacht. Er wollte Jura studieren. Die Kommission, die über die Zulassung zum Studium entschied, lehnte es ab, weil er "Opportunist" sei. Er hatte als Schulsprecher wiederholt Auseinandersetzungen mit dem Kultusminister Grünberg, einem alten Kommunisten, gehabt. ... Es hat ihm nicht geschadet. Heute ist er Erster Bürgermeister von Hamburg". Im Frühjahr 1949 legt die SED dem verhassten Rostocker OB die Schlinge um den Hals: ihre Zeitungen beschuldigten ihn, in der Stadtverwaltung "opportunistischen Sumpf" zu dulden; der Landesvorstand der Partei verlangt von ihm die Abgabe eines - schon vorformulierten - Schuldbekenntnisses, wie sie sich seit den Moskauer Prozessen der 30er Jahre bei den Bolschewisten eingebürgert hatten. Schulz – scheinbar "einsichtig" – gibt den Genossen zu bedenken, die vorbereitete Erklärung sei so grobschlächtig, dass die Rostocker Arbeiterschaft schon am Stil erkennen würde, dass sie unmöglich von ihm stammen könne. Zur Formulierung eines wirkungsvollen Schuldbekenntnisses benötige er allerdings ein paar Tage. Die wurden ihm dann gewährt – und vor ihrem Ablauf flieht die Familie Hals über Kopf in den Westen (wobei der Flüchtling immerhin noch die Nerven hat, die ostzonale Grenzkontrolle in Berlin mit seinem Rostocker OB-Ausweis abzufertigen).

Soweit ein paar referierende Worte; mehr als das entnehme man den Erinnerungen selbst !

Der Zufall will es, dass just dieser Tage in einem Januarheft der NJW auf ein Buch des Landesbeauftragten von Mecklenburg-Vorpommern für die Stasi-Unterlagen: "Schwerin, Demmlerplatz. Die Untersuchungshaftanstalt des MfS in Schwerin " – von Johannes Beleites -, hingewiesen wird, das seit Mai 2001 vorliegt und (auch per FAX - Nr. 0385 734007) für eine Schutzgebühr von 5,11 Euro erhältlich ist. Die Arbeit beschäftigt sich mit der Zeit, die auf die Übernahme des Gefängnisses am Demmlerplatz vom NKWD in die Hände des MfS der DDR (Anfang 1954) folgte. Die Schilderungen der dort notorischen Methoden, insbesondere auch die Abbildungen der Trakte des Gebäudes und seiner Zellen geben aber einen lebhaften Eindruck auch von der frühen Zeit jenes tristen Gemäuers, als Albert Schulz dort eingekerkert war.

Der Weg Albert Schulz’ steht für das Schicksal mancher Sozialdemokraten - und keineswegs für sie allein: ebenso für "Bürgerliche" - und nicht zuletzt auch für Kommunisten selbst, die erst in Hitlers und dann (oft: wenn sie sich endlich gerettet glaubten!) in Stalins knochenbrechende Mühlen gerieten. Wer das alles lebend hinter sich gebracht hatte, war geheilt von dem Wahne, die beiden Tyranneien verkörperten den schroffen ("antagonistischen") Gegensatz zwischen reaktionärem Faschismus und progressivem Antifaschismus. Albert Schulz selbst hat von einem solchen Irrtum allerdings nie geheilt werden müssen, weil er den wirklichen Sachverhalt (die totalitär-barbarischen Züge beider) schon in sehr jungen Jahren klar erkannt hatte, wofür sein Buch Blatt für Blatt Zeugnis gibt.

Nach seiner Flucht in den Westen wurde die SED nicht müde, den Verstoßenen und Entkommenen mit Hass und Geifer zu verfolgen. Als nach dem 17. Juni 1953 auch in Rostock Unruhen aufkamen, wurde der ferne Schulz als deren Drahtziehen "entlarvt" und ihm die Leitung eines "Agentenbüros im Dienst des US-Imperialismus" und andere verräterische Anschläge gegen den friedlichen ersten Arbeiter- und Bauernstaat auf deutschem Boden zugeschrieben. Übrigens fand ich auch noch nach der Wende im Jahre 1990 oder 1991 in einer mecklenburgischen Zeitung, die mir dort zufällig in die Hand geraten war, die üble - in vermutenden Fragen nur dürftig verhüllte - Nachrede, Albert Schulz habe sich seinerzeit wegen Unterschlagung oder dgl. Unregelmäßigkeiten in den Westen absetzen müssen (der redaktionell verfälschte Sachverhalt findet sich richtig auf S. 119 der Memoiren erwähnt), sein Los also doch wohl selbst verdient. Der PDS fiel es also wieder einmal – wie auch sonst so oft – schwer, aus ihren eingefahrenen Gleisen herauszutreten, unbeschadet ihrer famosen Namensänderung. ...

Erfahrungen sind Erfahrungen: der wirkliche Mensch kann sich ihrer nicht nach Belieben entledigen, mögen auch hundert Gründe purer Opportunität dahin drängen. Soziale Kollektive und Organisationen unterliegen anderen Lebensgesetzen:

Sein Familienschicksal war für Peter Schulz (wovon oben schon die Rede war) zugleich ein eigenes: persönliches; er hat es weder abstreifen oder verleugnen können noch wollen. So redete er später z.B. auf Delegiertenversammlungen seiner Partei gelegentlich herzerfrischend deutlich und unverblümt über die "Bolschewisten", ihre Handlungsmaximen und taktischen Absichten zu einer Zeit, als sanfte Entspannungstöne dort längst in höchster Blüte standen, das klare Wort bestenfalls als peinlich galt und das verdienstvolle Ostbüro der SPD (von der SED unermüdlich als Agenten- und Spionagezentrale verleumdet) schon längst auf dem Altar brüderlicher (aber unentwegt als "kritisch" beschwichtigter!) Dialoge geopfert worden war.

Wohin heute noch – oder heute wieder? – mit dem bitteren Schatz solcher Erfahrung? Wäre es nützlich oder – ganz im Gegenteil! - vielleicht geradezu "kontraproduktiv", ihm jetzt wieder Geltung zu verschaffen – im Angesicht von Koalitionslandschaften, in denen man sich um die PDS mehr oder minder leidenschaftlich bemüht, gelegentlich vielleicht bemühen mus? Sollte es Hoffnung wecken, dass eine kritische Publikation wie die genannte Schweriner über den Demmlerplatz von der dortigen PDS immerhin nicht hintertrieben werden konnte - oder idealiter in Betracht gezogen: von ihr aus Unrechtseinsicht gar nicht hintertrieben werden sollte ? Ein neues Thema, nicht unseres jetzt!

Aber eine stadtgeographische Mitteilung, die so etwas wie Versöhnung vielleicht ja ahnen lässt, soll diesen Rückblick beschließen: In Rostock erinnert heute eine Albert-Schulz-Straße an den dort seinerzeit allseits beliebten, hochgeachteten, mutigen "OB" aus stürmischer Zeit.

Günter Bertram