(Dieser Artikel ist veröffentlicht in MHR 4/05, 26) < home RiV >

Optimierter Service

Irgendwann – es mag ein, zwei oder drei Jahre her sein, Zeitabstände verschwimmen rasch – war der vertraute Briefkasten an der Ecke verschwunden: über Nacht, ohne Vorankündigung, wie abgerupft. Doch die Vermutung, hier habe ein bärenstarker Chaot im Zustand der Volltrunkenheit seine Frustration am Eigentum der Post abreagiert, erwies sich als Irrtum, denn allenthalben – hundertfach, tausendfach – widerfuhr den Leuten fast zur selben Zeit die gleiche Überraschung. Bald wurde das Publikum darüber belehrt, dass die Post hier nicht Opfer, sondern selbst Täter gewesen war, denn die Deutsche Post AG hatte die (gewissen internen Planziffern zufolge) zu geringen Abstände ihrer gelben Kästen kurzerhand berichtigt, ihren Kundenservice mithin optimiert. Entsprechendes gilt, wie man weiß, für die vielen bürger- und bürgerinnen-freundlichen Verbesserungen im Netz von Postämtern und Poststellen, die laufend mit fürsorglichem Eifer synergetisch ausgedünnt und effektuiert werden. Wie transparent, handlich einfach und benutzerfreundlich der Versand von Briefen, Paketen, Päckchen, von dergleichen und anderem inzwischen geworden ist, lässt sich den Service-Informationen der Post entnehmen, die stets aktuell auf den Poststellen gratis zu haben sind und „auf alle Fragen zu den Produkten und Leistungen der Deutschen Post AG“ auf weit über 100 Seiten Auskunft geben (zu­gleich einen kostenlosen Volkshochschulkur­sus im neoenglischen Kommunikationschinesisch erteilen). Der Stoßbetrieb auf den Postämtern jetzt vor dem Weihnachtsfest wird uns diese ingeniöse Modernität erneut lieben lehren. Ist es überhaupt zu begreifen, dass immer noch Leute leben, die solchen Spitzenservice nicht zu würdigen wissen? Zum Beispiel Ludwig Döring aus Ettenheim, der die FAZ unter dem 12. November d.J. mit folgender Zuschrift behelligt hat:

 

„Ich wohne in dem großen Dorf Münchweier, in dem es früher ein Postamt und zwei Banken gab. Das Dorf, das drei Kilometer von der Kleinstadt Ettenheim entfernt ist, wurde eingemeindet, das Postamt geschlossen, ebenso eine Bank. Die Kleinstadt Ettenheim hatte ein wunderschönes Postamt, das im Zuge der sinnlosen Privatisierung geschlossen wurde. Es gibt jetzt eine Postfiliale in einem Blumengeschäft. Die zwei Briefkästen sind Münchweier erhalten geblieben. Heute musste ich zwei Briefe absenden, die gefühlsmäßig schwerer waren als ein 0,55-Euro-Brief. Um die Briefe richtig zu frankieren, musste ich mit dem Auto nach Ettenheim fahren. (Was machen alte Leute, die nicht mehr Auto fahren können?) Auf der Postfiliale erfuhr ich, dass die beiden Briefe je 0,95 Euro kosten. Die Postangestellte sagte mir, ich könne froh sein, dass Ettenheim eine Postfiliale habe, denn sonst hätte ich nach Lahr fahren müssen (13 Kilometer), dort gebe es noch eine Post. Wir haben in Deutschland Zustände, die schlimmer sind als in der DDR. Welche stilvollen Postpaläste gab es, als wir noch eine Reichspost hatten. Mein Großvater, der Geschäftsmann war, ist sonntags zur Post gegangen, um seine Post dort abzuholen. Früher wurde die Post zweimal täglich ausgetragen. Es mag sein, dass aufgrund der neuen Kommunikationsmittel die Dienstleistungen der Post eingeschränkt werden können, aber dass ich sechs Kilometer mit dem Auto fahren muss, um zwei Briefe aufzugeben, das geht zu weit, auch dass sonntags die Briefkästen nicht mehr geleert werden.“

Der Mann ist vermutlich alt, etwas starrsinnig (warum klebt er nicht gleich je 1,44 Euro auf seine Briefe, womit er dann zwar kein Porto, aber sich viel Ärger und sechs Fahrkilometer sparen könnte?) und verdient deshalb Nachsicht. ... Oder steckt doch ein Körnchen Salz in seinem Klagelied? Immerhin war es der sicherlich lebenstüchtige Sebastian Haffner, der vor über vierzig Jahren ein paar skeptische Gedanken über den Fortschritt im allgemeinen[1] und den der Post im besonderen zu Papier gebracht hatte, die sich heute wie eine historische Ergänzung und real-satiri­sche Fortsetzung der Döring’schen Jeremiade lesen:

„... Vor 1914 wurden, jedenfalls in Berlin (ich weiß nicht genau, wie es in anderen Großstädten war), Briefe elfmal am Tag ausgetragen, stündlich; zwischen 1919 und 1939 noch dreimal an Werktagen und sonntags einmal; jetzt noch von Montag bis Sonnabend einmal und Sonntags keinmal; demnächst, wie es heißt, auch sonnabends nicht mehr. Aber damit nicht genug. Neuerdings bringt die Post Briefe überhaupt nicht mehr in die Wohnungen, sondern nur noch bis zum Hauseingang, wo die Empfänger sie sich aus „Hausbriefkästen“ abholen dürfen.

Wenn es so weitergeht – und warum sollte es nicht so weitergehen? –, wird man vielleicht in fünf oder zehn Jahren seine Briefe bei den Postämtern abholen müssen, und zwar wird das wohl, um Überfüllung und Unordnung zu vermeiden, also in unserem eigenen Interesse, nur noch zu bestimmten Stunden geschehen dürfen, zum Beispiel für Adressaten mit dem Anfangsbuchstaben A morgens um acht und für solche mit dem Anfangsbuchstaben Z abends um sechs; oder, da das vermutlich immer noch zuviel Gedränge vor den Schaltern verursachen würde, besser nur einmal in der Woche, die A’s montags um acht und die Z’s freitags um sechs. Und dann vielleicht, weitere zehn Jahre später, nur noch einmal im Monat. In fünfzig Jahren dürfte dann der Briefverkehr gänzlich der Vergangenheit angehören. (Dass die Post inzwischen für ihre immer geringeren Leistungen immer teurer wird, davon wollen wir gar nicht erst reden).“

Haffner hatte das mit „Unser sinkender Lebensstandard“[2] überschrieben, womit er die Qualität des ganz normalen Jedermann-Alltags meinte – nicht etwa Einkommen, Kaufkraft oder Warenangebote, deren Anstieg wie alles Wachstum damals (die – erste! Große Koalition hatte alle dynamischen Auftriebskräfte der Gesellschaft gerade frisch gebündelt) ganz selbstverständlich und auf unabsehbare Zeit sicher erschienen. Ihm war längst klar geworden, dass der Fortschritt nichts ist als eben Fortschritt und mit einer Verbesserung, Verschönerung oder gar Erheiterung des menschlichen Lebens nichts, jedenfalls nichts Notwendiges zu tun hat – eine damals ziemlich neue, heute banale Erkenntnis, mit der wir wieder bei unserer Post angelangt sind. Müssen wir andere Beispiele anführen? Etwa die Bahn-AG, die ihren Betrieb inzwischen energisch optimiert hat und auf vielen ihrer Bahnhöfe ohne lebendiges Personal auskommt, so dass immer ein paar Leute mit Fragen und Problemen dort einsam und hilflos umherirren. Auch ihre gemütlichen Speisewagen hat die Bahn AG längst durch effizienten, praktischen, modernen Allerweltsservice ersetzt und ihre Fahrkartenauskünfte auf den letzten Stand der Technik gebracht, so dass sich ihr verbliebenes Personal selbst nur noch selten und allenfalls zufällig durchfindet.

Aber was zeigen wir mit dem Finger auf andere: Sind wir denn besser? Die Justizministerien rupfen zwar keine Postkästen weg, dafür aber Gerichte, wenn die nach Berechnung fortschrittlicher Beraterteams zu dicht beieinander stehen, um nur ein Beispiel zu nennen: Fortschritt, so Haffner, ist unentrinnbar; aber er tut weh3 .

Vielleicht ertrüge das Publikum diese und andere Schmerzen – Verluste an Lebensqualität – mit mehr Gleichmut und Gelassenheit, wenn sie realistisch und kühl mit dem Hinweis auf leere Kassen und brutalen Sparzwang erklärt werden würden. Mit solcher Redlichkeit wird heute jedoch kein Staat mehr gemacht, auch keine Post, Bahn, Justiz usw. Alles ist Fortschritt, Service, bessere Qualität, Synergie, Modernisierung – Menschenbeglückung. Freilich glaubt Herr Döring aus Ettenheim kein Wort davon – wirklich er allein nicht?

Günter Bertram

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[1] Über den Fortschritt; NDR 1969, abgedruckt in: Historische Variationen, dtv. 2003, 346-352.

[2] in: Deutsches Panorama, 1966, abgedruckt aaO. (Fußn. 1) S. 326

[3] aaO. , Fußn. 1, 346