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Reichskristallnacht - ein Unwort ?

Reichskristallnacht wird heute mit Recht nicht ohne Anführungszeichen verwendet, weil das Wort hinter der Schändlichkeit des mit ihm Bezeichneten so unendlich weit zurückbleibt, daß es wie eine blasphemische Verniedlichung klingt. Trotzdem ist es weder eine Erfindung der Nazis noch etwa "damaliger Sprachgebrauch", wie Ignatz Bubis in seiner Gedenkrede (FAZ vom 10.11.1998) sagt und wie man landauf, landab immer wieder hört.

Was hat es auf sich mit diesem Wort ?

Der Urheber und Organisator des November-Pogroms von 1938, Reichspropagandaminister Joseph Goebbels, schrieb am Morgen nach der Brandnacht im Völkischen Beobachter:

"Die berechtigte und verständliche Empörung des deutschen Volkes ... hat sich in der vergangenen Nacht in umfangreichem Maße Luft verschafft ..."

Er schob die Urheberschaft auf das angeblich spontane Volk. Diese Lesart nahmen ihm interessanterweise selbst die Nazis nicht ab: Die losgelassenen Terrortrupps der SA hatten in der Nacht viele Juden erschossen und erschlagen, was alsdann auch den Staatsanwaltschaften nicht verborgen blieb. Was war zu tun? Der "Stellvertreter des Führers" - Rudolf Heß - übertrug die nunmehr unvermeidlich gewordenen Ermittlungen dem Obersten Parteigericht der NSDAP, weil PG (scil. Parteigenosse) Dr. Goebbels für die - wie es recht abstrakt heißt -: "zu beurteilenden Vorgänge" Weisungen erteilt habe, und die Prüfung nun nicht "unzähligen staatlichen Gerichten" überlassen werden könne. Also ging das Parteigericht der Sache ziemlich genau nach, bis in den Februar 1939, und machte dann u.a. Geheimakten-kundig:

"... Auch die Öffentlichkeit weiß bis auf den letzten Mann, daß politische Aktionen wie die des 9. November von der Partei organisiert und durchgeführt sind, ob dies zugegeben wird oder nicht. Wenn in einer Nacht sämtliche Synagogen abbrennen, so muß das irgendwie organisiert sein und kann nur organisiert sein von der Partei. ..."

Ein Geheimnis war das in der Tat nie gewesen. Das Volk hatte sofort begriffen, wer hinter der Sache steckte; aber die Wahrheit war tabu. Der schlagfertige Berliner Volksmund indessen war mit "Reichskristallnacht" auf ein Wort verfallen, das denen-da-oben unter die Nase rieb, man lasse sich von Goebbels und der Partei nicht für dumm verkaufen - ohne daß diese Insub-ordination für die Gestapo recht greifbar wurde:

Man entlehnte der bombastischen Phraseologie der Nazis, die sich im Reichs-Gehuber (Reichsparteitag, Reichsfrauenschaft, Reichsschrifttumskammer, Reichssportfeld, Reichsstatthalter usw.) geradezu überschlugen, ihr geheiligtes Reich (das zugleich für perfekte und schlagkräftige Reichsorganisation stand!), um es dann zu verbinden mit einer leisen Andeutung des wirklichen Geschehens, - wobei "Kristall" (anstelle schlichten Glases) möglicherweise zugleich auf Göhrings notorische Raffgier zielte.

Alles wahrlich keine Akte des Widerstands (die allgemeine deutsche Lethargie jener Tage gehört vielmehr zu dem, was Martin Walser in seiner so viel mißdeuteten Friedenspreisrede "unsere Schande" genannt hat, vgl. FAZ vom 12.10.1998)! Nichts weiter als kleine, ironische, völlig folgenlose Nadelstiche in die aufgeschäumten und verlogenen Phrasen der Goebbels & Co. ..., aber dennoch just das Gegenteil der damals verordneten Sprache!

Heute greift man jeweils im November mit Vorliebe zum Ausdruck "Reichspogromnacht". Aber der ist mißgebildet, weil in ihm das salopp - mokante Reichs-Präfix mit dem todernsten und schrecklich zutreffenden Begriff Pogrom zusammengespannt wird. Mag sein, daß diese peinvolle Inadäquanz heutigen Zeitgenossen nicht mehr auffällt, die Neubildung vielleicht sogar als besonders korrekt empfunden wird. Das wäre ein Indiz dafür, daß wir über den damaligen Alltag nicht mehr allzuviel wissen.

Günter Bertram

PS:

Wer über Justiz und "Reichskristallnacht" Genaueres wissen möchte, sei auf das gleichnamige Kapitel bei Lothar Gruchmann hingewiesen: Justiz im Dritten Reich 1933 - 1940 Anpassung und Unterwerfung in der Ära Gürtner, München 1988, dort S. 484-496.